Durch die SARS-CoV2 Pandemie und die teilweise wirklich furchtbaren Bilder, die uns aus anderen Ländern -zum Teil auch aus Nachbarländern- erreichen, ist eine Diskussion hochgekocht, die inhaltlich eigentlich gar nicht neu ist, aber derzeit natürlich mit einer gewissen Emotionalität in der Öffentlichkeit geführt wird. Es geht hierbei um das Missverhältnis vorhandener medizinischer Ressourcen zur Anzahl von Patienten.
Was machen Mediziner*innen, wenn mehr Patienten die Ressource Arzt/Ärztin, Pflegekraft oder Apparate benötigen als vorhanden sind?
Grund der derzeitigen Empörung über die Notwendigkeit dieser Entscheidungen ist insbesondere, dass einige Nachbarländer darüber berichten würden, Altersgrenzen für solche Entscheidungen in Zeiten dieser SARS-CoV2 Pandemie als Grundlage zu nutzen. So werde also entschieden, dass Patient*innen oberhalb eines bestimmten Lebensjahres, die in der heutigen Zeit eine (intensiv-)medizinische Betreuung benötigen würden, diese zu Gunsten jüngerer Patient*innen nicht erhielten. Eine solche Aussage so im Raum stehen zu lassen, muss für Irritation und Unmut sorgen. Zurecht.
Mein Ziel dieses Blogbeitrags:
Sowohl in der Medizin tätiges Personal (Profis) als auch Leser*innen, die im Alltag nichts mit Medizin zu tun haben, sollen die Grundlagen intensiv- und notfallmedizinischen Handelns in solchen Situationen verstehen.
Theoretischer Gedankengang:
Eine Art Supergau für Intensiv- und Notfallmediziner*innen ist, wenn alle Beatmungsmaschinen belegt sind, eine Weiterverlegung in andere Zentren nicht möglich ist und nun vielleicht sogar gleichzeitig zwei Patient*innen eintreffen, die ebenfalls beatmet werden müssen und offensichtlich die gleiche Prognose haben. Auf dem Boden dieser Theorie möchte ich Entscheidungsgrundlagen erklären und zum Schluss zu meinem ganz persönlichen Fazit kommen.
Entscheidungsgrundlagen:
Um so schwerwiegende Entscheidungen wie im theoretischen Beispiel treffen zu können, bedarf es klarer Entscheidungsgrundlagen. Hier ist es hilfreich, auf bereits im Alltag verwendete Prinzipien zurückzugreifen.
Medizinische Indikation und Prognose. Zu den größten Herausforderungen im klinischen Alltag gehört es, jungen Kolleginnen und Kollegen klar zu machen, dass die MEDIZINISCHE INDIKATION ERSTE GRUNDLAGE ÄRZTLICHEN HANDELNS ist. Diese Grundlage steht noch vor dem Patientenwillen in der Durchführung invasiver Medizinischer Maßnahmen. Hierfür gebe ich gern ein Beispiel. Stell dir vor, ein Mensch kommt zu dir und bittet dich, eine Narkose einzuleiten und ihn zu beatmen. Einfach so. Ohne medizinischen Grund. Machst du das dann? Egal, ob du Mediziner*in bist oder nicht, wirst du diese Frage wohl kopfschüttelnd mit „Nein“ beantworten. Und warum? Weil es keinen Sinn macht. Dieser Mensch hat offensichtlich keine Erkrankung, die ein solches Handeln notwendig macht und der Nutzen steht in keiner Relation zum Risiko und dem Ressourceneinsatz. Dieser Grundsatz gilt immer. Deshalb schneiden Chirurgen nicht auf Wunsch und ohne Indikation einem Menschen einfach ein Bein ab und deshalb machen Intensiv- und Notfallmediziner*innen (HOFFENTLICH!) nicht einfach Intensiv- und Notfallmedizin. Nur ist es eben in der Intensiv- und Notfallmedizin etwas komplexer, da:
- Häufig nicht zu Beginn vorhergesehen werden kann, ob jeweilige Patient*innen von Intensiv-und Notfallmedizin tatsächlich profitieren oder nicht,
- Der Zustand solcher Patient*innen oft so eingeschränkt ist, dass man nicht genug Zeit hat, alle Aspekte gemeinschaftlich zu betrachten und
- Der Verzicht auf die Eskalation der medizinischen Maßnahmen in diesem Fachgebiet meist umgehend mit dem Tod vergesellschaftet ist.
Und dennoch bleibt das Prinzip gleich: auch Intensiv- und Nofallmediziner*innen stellen immer die medizinische Indikation für die jeweilige Maßnahme -auch für die Beatmungstherapie.
Aber wieso ist diese Entscheidung im Falle der Beatmungstherapie besonders schwierig?
Dies liegt in der Tatsache, dass es ausgesprochen schwer ist abzuschätzen, ob eine Beatmung in Abhängigkeit aller Faktoren dem Patienten wirklich dienlich ist oder nicht, denn: BEATMUNG IST KEIN SELBSTZWECK UND AUCH KEINE KURATIVE THERAPIE. Vielmehr dient die Beatmung von Patient*innen auf Akutintensivstationen einzig und allein dem Ziel, Zeit zu gewinnen. Wir gewinnen Zeit, in welcher wir versuchen, durch Beatmung den Patient*innen genug Sauerstoff zukommen zu lassen und Kohlendioxid abzuatmen, solang die eigentlich heilenden (kurativen) Maßnahmen -wie die Gabe von Medikamenten, die Durchführung von Ops, etc.- wirken sollen. Besteht im Gesamtkontext durch diese kurativen Maßnahmen keine medizinische Erfolgsaussicht, ist die Durchführung der Beatmung auf einer Akutintensivstation mehr oder weniger sinnlos und muss somit auch ausgesprochen kritisch hinterfragt werden.
Patientenwille. Medizinische Therapie ist ein Eingriff in die Integrität des Körpers. Dies setzt die Einwilligung des Patienten voraus. Anderenfalls handelt es sich um Körperverletzung. Auch, wenn ein Arzt eine solche Maßnahme gegen den Willen des Patienten durchführen sollte. Dies ist auch in Krisensituationen gültig.
Wichtig ist hierbei zu verstehen, dass der Patient kein Indikationsrecht hat. Vielmehr handelt es sich um ein „Vetorecht“, denn Patient*innen dürfen entscheiden, ob eine durch Mediziner*innen indizierte Maßnahme tatsächlich durchgeführt werden darf oder nicht.
Aus aktuellem Anlass das Thema Lebensalter. Jeder hat sich schon mindestens ein Mal dabei erwischt, dass er seinen Gegenüber jünger oder älter einschätzte. In Abhängigkeit des Lebenswandels, bestehender Erkrankungen uvm. ist der Gesundheitszustand (aus meiner Sicht vor allem in den Industrieländern) unabhängig vom Lebensalter ausgesprochen unterschiedlich. So gibt es 80-jährige, die sich bester Gesundheit erfreuen und im Falle einer akuten Erkrankung und intensivmedizinischer Therapie eine relativ gute medizinische Prognose hätten, während 50-jährige mit wesentlichen Vorerkrankungen in der gleichen Situation eine deutliche schlechtere Prognose hätten. Dies impliziert, dass das einfache Lebensalter für Entscheidungen über medizinische Ressourcen nicht als einzige Grundlage dienen darf. Dadurch werden die Entscheidungen zwar nicht einfacher, werden allerdings den Patienten gerecht und sind aus meiner festen Überzeugung heraus dennoch in Krisensituationen anwendbar.
Gleichzeitig darf man sich allerdings nicht vor der Tatsache verschließen, dass das Lebensalter dennoch für die Einschätzung der Prognose eine Rolle spielt. Es ist bekannt, dass mit zunehmendem Lebensalter die Sterblichkeit in Abhängigkeit der jeweiligen Erkrankung steigt. Ältere erwachsene Patienten überleben eine Intensivtherapie verglichen mit jüngeren Altersgruppen weniger häufig. Somit ist das einfache Lebensalter zwar nicht die Entscheidungsgrundlage, aber es muss auch erlaubt sein offen auszusprechen, dass das Lebensalter ein wesentlicher Bestandteil der medizinischen Prognose ist und somit richtigerweise auch in die Entscheidungsfindung mit eingebunden werden sollte.
Veröffentlichung der Fachgesellschaften:
Die einschlägigen Fachgesellschaften haben in ausgesprochen kurzer Zeit eine Empfehlung veröffentlicht, die Ärzt*innen in der Entscheidungsfindung medizinischer Maßnahmen und Ressourcenbindung unterstützen soll (https://www.divi.de/empfehlungen/publikationen/covid-19/1540-covid-19-ethik-empfehlung-v2/file) Ein Gremium aus Mediziner*inne, Jurisit*innen und Ethiker*innen hat sich binnen kürzester Zeit zusammengesetzt und diese Empfehlung formuliert und in einem Algorithmus dargestellt. Im Wesentlichen besteht der Algorithmus aus 4 Teilschritten. Die Schritte 1 bis 3 entsprechen mit (1) Indikationsstellung, (2) Prognose und (3) Patientenwillen IMMER und JEDERZEIT dem Vorgehen der Intensiv- und Notfallmediziner*innen und sind damit berechtigt in das vorgelegte Protokoll integriert. Somit sind Mediziner*innen auch in Ausnahmesituationen in der Lage, strukturiert -wie im Sinne einer Checkliste- alle Aspekte abzuarbeiten und gemeinschaftlich zu einem Ergebnis zu kommen.
Schritt 4 dieses Vorgehens ist ein speziell intensiv- und notfallmedizinisches Vorgehen, das vor allem im Verlauf einer bereits begonnenen Therapie als Hilfestellung dienen kann und somit die tägliche Reevaluation des medizinischen Handelns unterstützt. Zwar handelt es sich auch hierbei auf guten Intensivstationen um ein Standardprocedere, doch werden innerhalb des Algorithmus Entscheidungsgrundlagen formuliert, die als Hilfestellung dienlich sein können. Hierbei werden Grunderkrankungen genauso wie der aktuelle Patientenzustand in die Entscheidungshilfe eingebunden.
Ergänzt wird der Algorithmus durch einen Dokumentationsbogen, der die Entscheidungen festhält und übersichtlich darstellt.
Das Konzept und der Dokumentationsbogen sind übersichtlich gestaltet, für Intensiv- und Notfallmediziner*innen problemlos anwendbar und kann wohl in jedem Klinikum Anwendung finden. So sind die einzelnen Kliniken nicht noch einmal gezwungen, eigene Dokumente zu entwickeln.
Mein Fazit:
Seit eh und je ist die Entscheidung über den Einsatz medizinischer Möglichkeiten in Abhängigkeit des Patienten, der zur Verfügung stehenden Mittel und der (Allgemein-)Situation Bestandteil ärztlichen Handelns. Insbesondere in der Intensiv- und Notfallmedizin werden wir aus meiner Sicht genau hierfür ausgebildet. So ist beispielsweise in der Ausbildung zum Leitenden Notarzt die umgehende Entscheidung, welche Patienten einer „Kategorie“ zugeteilt werden und entsprechend versorgt, behandelt oder transportiert werden sollen, fester Bestandteil. Entscheidungen gegen eine Akutbehandlung sind auch in solchen Fällen mit der Akzeptanz verbunden, dass Patient*innen sterben werden.
Als Intensivmediziner ist es meine Aufgabe, täglich meine Maßnahmen in Abhängigkeit des Patientenwillens und der medizinischen Prognose in Frage zu stellen und je nach Antwort auch tiefgreifende Entscheidungen für unsere Patient*innen zu treffen.
Intensiv- und Notfallmediziner*innen wurden aus meiner Sicht nicht nur für das Treffen der hier beschriebenen Entscheidungen ausgebildet, sondern treffen solche schwerwiegenden Entscheidungen jeden Tag. Gute Intensivmediziner*innen reevaluieren ihre Maßnahmen auf Intensivstation täglich und stellen sich somit auch täglich die Frage, ob der Einsatz der Intensivmedizin tatsächlich medizinisch noch weiter indiziert ist und der Patient eine tatsächliche medizinische Prognose hat und ob eben genau diese Prognose auch wirklich mit dem individuellen Patientenwunsch entspricht.
Und dennoch bereiten wir uns durch die Pandemie noch einmal auf eine sehr spezielle Fragestellung vor, die anfangs in unserem theoretischen Modell beschrieben wurde. Es geht nämlich bei der Gretchenfrage in diesem Modell nicht nur um die Frage, ob eine medizinische Prognose besteht oder nicht. Es geht um die Frage, wie man entscheidet, einem Patienten mit schlechterer Prognose eventuell eine weiterführende Beatmung zu verwehren, um einem neu eintreffenden Patienten mit wahrscheinlich besserer Prognose die Chance einer Beatmungstherapie zu gewährleisten.
Zwar hilft der Algorithmus der Fachgesellschaften und stellte sicherlich eine Unterstützung dar, und dennoch: zuletzt bleibt der Intensivmediziner am Patientenbett mit dieser hoch individuellen Entscheidung allein und verantwortlich. Ich kann nur alle Führungskräfte in unserem Arbeitsbereich auffordern, hier besondere Verantwortung zu übernehmen und hoffe für uns alle, dass solche Entscheidungen in Deutschland zu keinem Zeitpunkt getroffen werden müssen. Gleichzeitig bin ich der festen Überzeugung, dass sowohl medizinische Profis als auch die Bevölkerung vertrauensvoll auf unsere Arbeit sehen kann, da wir Entscheidungsgrundlagen verfolgen, die auf Alltag beruhen, auf routinierte Abläufe zurückgreifen und im Alltag viel mehr Erfahrung mit der Entscheidung zu den Themen Leben und Tod zu tun haben, als es offensichtlich bekannt zu sein scheint. Wir sind gut vorbereitet.
Abschließend sei gesagt: die Entscheidung gegen Intensivmedizin ist keine Entscheidung gegen Medizin. Im Gegenteil. Es ist die Umstellung des Therapieziels und geht von „Lebensdauer erhalten, koste es was es wolle“ zu „Lebensqualität so hoch wie möglich erhalten und wenn möglich friedlich in den Tod begleiten“. Und das gilt immer und überall; mit SARS-CoV2 und ohne Pandemie.
Mehr zum Thema Tod und Intensivstation von mir aus anderer Sicht beleuchtet: BLOG 18
Bleibt gesund!
Sebastian.
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