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Als wäre es häufig nicht so schon schwer genug, einen akut interventionsbedürftigen Herzinfarkt von den vielen Differenzialdiagnosen zu unterscheiden, gibt es da ja noch die Problematik mit dem kompletten Linksschenkelblock (LSB). Das durch den LSB vollkommen verschrobene EKG mit veränderter QRS-Konfiguration und abweichender ST-Strecke stellt allzuhäufig eine große Herausforderung dar, wenn es um die Diagnose eines waschechten Herzinfarktes geht.

Hier nochmals zur Erinnerung:

Merkmale eines STEMI (ohne kompletten Schenkelblock):

Signifikante ST-Hebungen in mindestens zwei benachbarten Ableitungen.

Als „signifikant“ werden Veränderungen der ST-Strecke ≥0,1 mV gewertet; gemessen wird am J-Punkt.

Ausnahmen sind die Ableitungen V2 und V3, in welchen in Abhängigkeit des Alters und Geschlechts höhere Abweichungen definiert sind.

 

 

Merkmale eines kompletten LSB:

QRS Dauer ≥ 0,12s

Tiefe S-Zacken in V1,2: R ist hier sehr niedrig oder gar nicht vorhanden (QS-Komplexe)

rSR‘-Konfiguration in V5 oder V6 möglich

Diskordante ST-Strecke und T in allen Ableitungen (umso breiter der QRS-Komplex, desto ausgeprägter)

 

 

MERKE:

Konkordant= gleiche Richtung wie QRS Komplex

Diskordant= NICHT gleiche Richtung wie QRS Komplex

 

 

Wenn du dir die Merkmale und Definitionen eines STEMI und eines LSB nun nochmal ansiehst, dann wird schnell klar, dass die STEMI Definition zunächst ein „normales Ruhe-EKG“ voraussetzt.

Bestand bereits zuvor ein LSB, steht man somit rasch vor der Problematik, mit genannten Definitionen einen STEMI zu erkennen.

 

Dank Frau Sgarbossa änderte sich dieses Thema vor einigen Jahren. Mit den sogenannten Sgarbossa-Kriterien wurden Veränderungen der ST-Strecke definiert, die hilfreich dabei waren, auch unter den Umständen eines Schenkelblocks die Diagnose eines STEMI zu stellen. Diese Kriterien wurden im weiteren Verlauf noch modifiziert und fanden schließlich regelmäßig in der STEMI-Diagnostik bei LSB ihre Anwendung.

 

Modifizierte Sgarbossa-Kriterien

Konkordante ST-Hebung ≥1 mm (in allen Ableitungen)

ST-Senkung ≥1 mm in den Ableitungen V1-V3

Exzessive diskordante ST-Hebung  ≥5 mm in Ableitungen mit einem negativen QRS-Komplex

 

 

 

Für Näheres verweise ich hier gern auf die Kollegen von „Nerdfallmedizin“ und „FOAMINA“ die bereits in der Vergangenheit einen sehr schöne Übersichtsartikel geschrieben haben.

Die Spezifität dieser Kriterien liegt zwar bei bei 98%, aber die Sensitivität liegt nur bei ca. 33%. Und natürlich kann man das so nicht auf Dauer auf sich sitzen lassen. Und nun publizierten Dr. Andrea Di Marco und Kollegen aus Barcelona im Journal of the American Heart Association die sogenannten „Barcelona-Kriterien“, um basierend auf den bereits bekannten Kriterien von Frau Sgarbossa mit ergänzten Aspekten die Sensitivität zu erhöhen, um somit die STEMI-Diagnose bei bestehendem Blockbild noch besser stellen zu können.

 

BARCELONA-KRITERIEN

Die Barcelona-Kriterien werten ein Infarktgeschehen, wenn eines der folgenden Kriterien gefunden werden kann:

Konkordante ST Veränderung ≥1 mm, also 0.1 mV (gilt für jede Ableitung):

– Konkordante ST Senkung ≥1 mm (0.1 mV)

– Konkordante ST Hebung ≥1 mm (0.1 mV).

– Diskordante ST Veränderungen ≥1 mm (0.1 mV), wenn QRS ≤6 mm (0.6 mV).

Abb. aus Originalartikel (Link)

 

Im Vergleich zu Sgarbossa ist also das markanteste Sgarbossa-Kriterium auch im Barcelona-Score enthalten:

konkordanten ST-Erhöhung von ≥ 0,1 mV, also 1 mm (gilt für alle Ableitungen).

 

Mit den Barcelona sind allerdings auch zwei Aspekte anders als bei Sgarbossa:

Während in Sgarbossa die konkordante ST-Senkung ≥ 0,1 mV (1 mm) in den Ableitungen V1–3 als Infarktzeichen gewertet werden, erweitern dies die BARCELONA-Kriterien auf alle Ableitungen.

Überhaupt nicht in Sgarbossa erwähnt und durch Barcelona ergänzt wurden exzessive diskordante ST-Abweichung ≥ 0,1 mV (1 mm), wenn der betroffene QRS Komplex ≤ 0,6 mV (6 mm) ist. Auch dies gilt für alle Ableitungen

 

Die hier genannten Barcelona Kriterien wurden an einer Kohorte mit 163 Patienten ausgearbeitet und an einer weiteren Gruppe von 107 Patienten überprüft und einer Kontrollgruppe von 214 Patienten mit komplettem Linksschenkelblock (aber ohne Verdacht auf Herzinfarkt) gegenübergestellt. Als Definition für einen kompletten Linksschenkelblock nutzten die Autoren in ihrer Untersuchung folgende Kriterien:

QRS-Dauer von ˃ 120 ms,

QS- oder rS-Komplex in V1, und R-Wave-Peak-Time ˃ 60 ms in den Ableitungen I, V5 oder V6, wenn keine Q-Welle in diesen Ableitungen vorlag.

Das Ergebnis zeigt, dass sich in dieser ersten Untersuchung die Barcelona-Kriterien als der Score mit der höchsten Sensitivität (93-95%) zeigt, wobei sich die Spezifität mit 89-94% als etwas schlechter im Vergleich zu den Sgarbossa-Kriterien (bei Score-Punktwert ≥3) erwies.

 

Und jetzt? Mein Fazit:

Das leidige Thema der Entscheidung über „STEMI oder Nicht-STEMI“ bei komplettem Linksschenkelblock wird uns wohl noch eine ganze Weile verfolgen.

Die Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie empfehlen aufgrund dieser Problematik, jeden kompletten Linksschenkelblock bei bestehender Symptomatik wir einen STEMI zu werten und zu behandeln (unabhängig davon, ob er vorbestellend war oder nicht). Dieses Prinzip des „one fits all“ wird sicherlich an Kraft verlieren, wenn sich im Alltag einfach anzuwendende Kriterien, wie die Barcelona-Kriterien, tatsächlich weiterführend in guter Sensitivität und Spezifität bestätigen und somit uns Notfallmedizinern und den Kollegen der Kardiologie die Möglichkeit geben, individueller auf unsere Patienten einzugehen und bestenfalls jeden gleich der Behandlung zuzuführen, die er tatsächlich braucht (oder eine Überversorgung zu generieren).

Auch wenn die Barcelona-Kriterien hilfreich sein können, werden sie die Frage aller Fragen, nämlich ob es sich um einen okkludierenden (OMI) oder eben um einen nicht-okkludierenden Myokardinfarkt (NOMI) handelt, alleine nicht beantworten können.

(Wenn du zu OMI und NOMI mehr erfahren möchtest, verweise ich auf den Sennnnnsationellen-Weltklasse-Tollen-Spitzen-Artikel von dasFOAM mit herzlichen Grüßen an die KollegInnen).

Und auch wenn ich diesen folgenden Satz nicht mag, hat er in diesem Fall doch tatsächlich einen klinisch für uns relevante Bedeutung: weitere Untersuchungen sind nötig, um den neuen Barcelona-Score auf „Herz und von mir aus auch Nieren“ zu prüfen und den Nutzen zu beweisen. Einen Versuch ist es allemal wert, finde ich.

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Bis dahin,

Sebastian

 

Literatur:

Smith et al.: Diagnosis of ST-Elevation Myocardial Infarcktion in the Presence of Left Bundle Branch Block With the ST-Elevation to S-Wave Ratio in a Modified Sgarbosse Rule. Annals of Emergency Medicine. Band 60, No 6, 2012. p766-776.

Di Marco A et al. New Electrocardiographic Algorithm for the Diagnosis of Acute Myocardial Infarction in Patients With Left Bundle Branch Block. J Am Heart Assoc. 2020;9:e015573. DOI: 10.1161/JAHA.119.015573

Macfarlane PW. New ECG Criteria for Acute Myocardial Infarction in Patients With Left Bundle Branch Block. J Am Heart Assoc. 2020;9:e017119. DOI: 10.1161/JAHA.120.017119