Es gibt kaum ein Medikament in der Notfallmedizin, dass in den vergangenen 10 Jahren so ausgiebig untersucht und diskutiert wurde wie die Tranexamsäure (TXA). Grund genug, dass ich mit dir in diesem und folgenden Blogbeiträgen die TXA mal näher beleuchte und wir gemeinsam sehen, was das schon beinahe als „Zaubermittel“ geschätzte Medikament in der Notfallmedizin wirklich kann.
Heute beschäftigen wir uns zunächst damit, was TXA überhaupt ist und warum bzw. wie es wirkt.
Gerinnungsphysiologie: ein ständiges Gleichgewicht
In unserem Körper herrscht stets ein Gleichgewicht zwischen Prozessen, die Gerinnung fördern und solchen, die der Gerinnung entgegenwirken. Ständig gebildete Gerinnsel werden also auch stetig in physiologischem Maße wieder aufgelöst, was als Lyse bezeichnet wird. Gerät dieses Gleichgewicht aus Pro- und Antikoagulation aus den Fugen, kann es je entweder zu Blutungen oder zu vermehrter Gerinnselbildung kommen.
Lyse und Hyperfibrinolyse
Der Lyseprozess wird durch die Wirkung von t-PA („Tissue Plasminogen Aktivator“) initiiert. T-PA und Plasminogen sorgen für die Entstehung von Plasmin und Plasmin ist schließlich für die Spaltung des noch nicht endgültig vernetzten Fibrins in Fibrinspaltprodukte verantwortlich.
Kommt es zu einer schweren Blutung, z.B. durch ein Trauma, kann es zu einer überschießenden Reaktion mit deutlich erhöhter Lyse kommen. In diesem Fall spricht man von Hyperfibrinolyse. Durch diesen Pathomechanismus werden bereits gebildete Gerinnsel also wieder aufgelöst (lysiert), obgleich sie in dieser Blutungssituation lebenswichtig sind.
Früher dachte man, dass die Koagulopathie (mit Hyperfibrinolyse) nach Trauma die Folge der aggressiven Infusionstherapie und der Hypothermie sei. Heute wissen wir, dass diese Faktoren zwar definitiv eine Rolle spielen, aber bei weitem nicht der einzige Grund für die Gerinnungsstörungen sind. Vielmehr handelt es sich bei der durch Trauma induzierten Koagulopathie (TIC) um einen pathophysiologischen Vorgang mit eigener Entität. Floccard et al zeigten in einer kleinen (aber charmanten) Untersuchung, dass erste Nachweise dieser Koagulopathie bereits am Unfallort und noch vor ersten (Infusions-)Therapiemaßnahmen nachzuweisen sind. Hinweise auf diesen umgehend nach Trauma entstehenden Pathomechanismus wurden in weiteren Untersuchungen bestätigt und publiziert. Zusammengefasst kann gesagt werden, dass die
TIC das Ergebnis aus:
- Gewebetrauma (in Abhängigkeit der Schwere des Traumas)
- Hypoperfusion (Schock)
- Äußeren Einflussfaktoren
ist und mit Beginn des Traumas beginnt.
Durch den Endothelschaden und den Schock kommt es nicht nur zu einem reinen Freisetzen von t-PA. Vielmehr wird gleichzeitig eine Kettenreaktion in Gang gesetzt:
Es kommt zur Ausschüttung von Thrombomodulin. Thrombomodulin bindet an Thrombin und initiiert einen sog. „Thrombin-Switch“. Hierdurch wird das eigentlich prokoagulatorische Thrombin plötzlich antikoagulatorisch, indem die Protein C und S für eine Hemmung der Faktorenbildung Va und VIIIa sorgen. Da beide Faktoren als „Katalysatoren der Gerinnung“ gelten und den Gerinnungsprozess schneller ablaufen lassen, kommt es nun durch die Blockade zu einem deutlich verlangsamten Gerinnungsablauf. Weiterhin hemmen die Proteine PAI 1. PAI 1 hat u.a. die Aufgabe, die t-PA Bildung zu blockieren. Hemmt man diese Blockade, so wird naturgemäß vermehrt t-PA freigesetzt. Und -wie wir bereits gelernt haben- führt ein vermehrtes Vorhandensein von t-PA zu mehr Lyse….und *zack*….da ist die Hyperfibrinolyse doch perfekt!
Man verglich „Traumapatienten mit Hyperfibrinolyse“ mit solchen ohne Ausbildung einer Hyperfibrinolyse. Hierdurch konnte gezeigt werden, dass Traumapatienten mit Hyperfibrinolyse deutlich häufiger an einer Blutung versterben. Die Hyperfibrinolyse scheint zwar nicht häufig vorzukommen, ist aber eine relevante und ausgesprochen lebensgefährliche Folge akuter Blutungen.
Unter Berücksichtigung der beschriebenen Pathophysiologie und deren Folgen liegt es also nahe, eine Hyperfibrinolyse bestenfalls zu verhindern oder so früh wie möglich zu behandeln.
Tranexamsäure zur Behandlung der Hyperfibrinolyse
TXA ist ein Lysin-Analogon. Es blockiert irreversibel die Lysinbindungsstelle von Plasminogen. Hierdurch wird die Bindung von Plasminogen und des aktivierten Plasmins an Fibrin blockiert. In der Folfe kann das Fibrin-Gerinnsel nicht durch Plasmin lysiert werden. Das Gerinnsel bleibt also bestehen und es kommt im Verlauf durch Faktor XIII unwiderruflich zu einer Quervernetzung des Fibrins, wodurch eine Lyse nicht mehr möglich ist.
Tranexamsäure greift somit direkt in den Pathomechanismus der Hyperfibrinolyse ein, der im Falle lebensbedrohlicher Blutungen mit Hyperfibrinolyse ein.
„Lyse“, „Hyperfibrinolyse“ und „Shut-down“
Es wäre aber zu einfach, wenn es einfach nur die „gesunde Lyse“ und die „krankhafte Hyperfibrinolyse“ gäbe. Stattdessen kann in der Gerinnungsdiagnostik noch ein „dritter Typ“ beobachtet werden. Hierbei handelt es sich um Patienten, die zwar eine Blutung aufweisen, aber eine „unphysiologisch niedrige Lyserate“ zeigen. Dies wird als „Shut-down“ bezeichnet. Warum dies so ist und welche Patienten in welches Situationen einen Shut-down, eine Hyperfibrinolyse oder eine physiologische Lyserate haben, ist bis heute noch nicht vollständig geklärt. Allerdings konnte in einer Studie mit Patienten nach Trauma etwas gezeigt werden, was bis heute Frage aufwirft:
Vergleicht die Gabe von TXA bei Traumapatienten mit Shut-down, Hyperfibrinolyserate und „normaler“ Lyse, so zeigen die Patienten mit normaler Lyse im Vergleich zu den anderen Patienten die höchste Sterblichkeitsrate. Kannst du das erklären? Ich kann es derzeit nicht. Hier werden wir wohl noch auf weitere Studienergebnisse warten müssen, bevor man eindeutige Aussagen zu diesem Phänomen machen kann. Und dies führt mich zum…
…Fazit.
TXA ist ein Lysin-Analogon und hat aufgrund seiner Wirksweise das Potenzial, direkt an einem der gefährlichsten Pathomechanismen blutender Patienten zu greifen: der Hyperfibrinolyse.
Und das ist wichtig, denn Patienten mit Hyperfibrinolyse nach Trauma sterben häufiger an der Blutung als solche, die keine Hyperfibrinolyse haben. Allerdings gibt es auch den Fall der normalen Lyse und des Shut-down und bis heute kann man noch nicht genau sagen, welche Auswirkungen die TXA in diesen Fällen hat.
Also müssen klinische Daten her, die uns aufzeigen, wann der Einsatz von TXA gerechtfertigt ist und wann nicht.
In den folgenden Blogbeiträgen zum Thema „Tranexamsäure in der Notfallmedizin“ werden ich einen Teil der bisher publizierten Studien dazu beleuchten und zu verschiedenen Notfällen mit Blutung zu einem persönlichen Fazit kommen.
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Ich freu mich auf Teil 2!
Bis dahin,
Sebastian.
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