Dieser Blogbeitrag richtet sich heute vor allem an ambitionierte NotfallsanitäterInnen, die gern den Blick in die Welt der innerklinischen Versorgung suchen und an junge KollegInnen der Pflege- und Ärzteschaft aus Intensiv- und Notfallmedizin und NATÜRLICH an alle, die es interessiert. Herzlich willkommen!

Stell dir vor, du übernimmst einen Patienten in der Zentralen Notaufnahme. Zuvor erfolgte die Versorgung durch den Rettungsdienst. Der Patient sei kurzzeitig kollabiert. Klingt nach Standard. Die Transportzeit dauerte nur 6 Minuten. Die Wohnung des Patienten, der Einsatzort, sei ganz um die Ecke und bei Eintreffen vor Ort habe alles einen aufgeräumten Eindruck gemacht.

Der Patient habe bei Eintreffen des Rettungsdienstes in einem großen Sessel im Wohnzimmer gesessen und seine Frau habe die Tür geöffnet und die Anamnese des bisher nicht vorerkrankten 45-jährigen Patienten ergänzt.

Der Patient nimmt offensichtlich seine Umgebung wahr, macht aber auf den ersten Blick einen kranken Gesamteindruck.

Ersteindruck: Potenziell kritischer Patient.

Klingt alles prima vista nach einem Routinefall. Interessant ist allerdings, was alles dahinter stecken kann. Vor allem, wenn wir diesen Patienten aus seinem Wohnzimmer über die Notaufnahme bis auf die Intensivstation begleiten, können interessante Aspekte und Zusammenhänge deutlich werden, die uns -insbesondere in der Präklinik- häufig verborgen bleiben. Und natürlich möchte ich heute auf ein ganz spezielles Thema hinaus…und dazu gibt’s jetzt mehr:

Wenn du nach deinem Ersteindruck und den ABCDE Maßnahmen die verschiedenen Differenzialdiagnosen durchgehst und mit deinen KollegInnen besprichst, gehört die (akute) Niereninsuffizienz wohl häufig nicht dazu. Oder? Wieso auch?

Dennoch kommt sie als Ursache für verschiedenste Leitsymptome in der Notfallmedizin häufiger vor als man denkt und das ist Grund genug, heute einen kurzen Überblick zu diesem Thema mit ganz speziellem Fokus zu geben.

 

Das akute Nierenversagen

In der Akutmedizin macht es Sinn, der klassischen Einteilung des akuten Nierenversagens strategisch zu folgen, um eine Hilfestellung in der Ursachenforschung zu haben und keine Aspekte zu vergessen:

  1. Postrenales Nierenversagen
  2. Prärenales Nierenversagen
  3. Renal bedingtes Nierenversagen

Das postrenale Nierenversagen wird durch ein Hindernis im Bereich der ableitenden Harnwege verursacht. Die Niere produziert brav Urin und ist durch das Hindernis nicht in der Lage, diesen loszuwerden. Irgendwo zwischen Nierenbecken und „Umwelt“ ist ein Hindernis, welches den Urinabfluss verhindert und dadurch einen Aufstau verursacht. Und *ZACK*: da ist das Problem.

In der Notfall- und Intensivmedizin achten wir hier zunächst auf eine gute Anamnese und körperliche Untersuchung, eine zielgerichtete (Nieren-)Sonografie und bei Auffälligkeiten auf eine erweiterte radiologische Diagnostik & spezielle Maßnahmen in Absprache mit den Kollegen der Urologie.

Therapeutisch steht bei Bestätigung der Diagnose die Entfernung des jeweiligen Hindernisses (meist durch KollegInnen der Urologie) und im Bedarfsfall die operative Etablierung einer Umgehung (perkutane Nephrostomie) im Vordergrund.

Das prärenale Nierenversagen ist mit einem Anteil von ca 60% die häufigste Ursache für ein Nierenversagen und wird dadurch verursacht, dass die notwendige Nierenperfusion nicht aufrechterhalten werden kann. Die Niere ist hier sehr empfindlich und nutzt aus diesem Grunde auch das Instrument der „Autoregulation“, um sich bestenfalls Veränderungen der prärenalen Umstände anpassen zu können. Allerdings hat auch diese Autoregulation ihre Grenzen und bei Verlust einer ausreichenden Perfusion wird die Nierenfunktion rasch beeinträchtigt. Als Ursache kommen alle Zustände in Betracht, die zu einer Minderperfusion der Niere führen, zum Beispiel:

  • Hypovolämie, z.B. Verursacht durch Blutungen, Diarrhoe, verringerte Flüssigkeitszufuht, etc.
  • Schockzustände, beispielsweise verursacht durch Sepsis,
  • Herzinsuffizienz

Die Diagnostik richtet sich hier abgesehen von Anamnese und körperlicher Untersuchung an die breite Ursachenforschung für ein mögliches prärenales Nierenversagen. Sicherlich steht notfallmedizinisch auch hier die Sonografie im Fokus; speziell die Überprüfung des Volumenstatus und natürlich die Echokardiografie.

In unserem Fallbeispiel sind sowohl das post- als auch das prärenale Nierenversagen in der Notaufnahme ausgeschlossen worden. Es gibt weder ein postrenales Hindernis noch Hinweise auf eine (prä-)renale Perfusionsstörung. Auffällig sind deutlich erhöhte Nierenretentionsparameter im Serum. Zudem imponieren in der Blutgasanalyse sowohl eine Hyperkaliämie als auch eine dezente respiratorisch kompensierte metabolische Azidose. Somit rückt der Gedanke an ein renal bedingtes Nierenversagen zunehmend in den Mittelpunkt der differenzialdiagnostischen Betrachtung.

Es gibt ausgesprochen viele renale Ursachen für ein Nierenversagen. Hierbei gibt es jedoch auch solche Ursachen, die entweder kaum einer kennt oder die aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen häufig weniger beachtet werden. Einer dieser Notfälle ist die

 

Rapid Progressive Glomerulonephritis (RPGN).

Natürlich gehören in die differenzialdiagnostischen Gedanken eines renal bedingten Nierenversagens auch andere und häufigere Ursachen, wie

  • medikamentös-toxische Gründe,
  • ischämische Ursachen oder
  • lokale Infektionen.

 

Und natürlich müssen auch diese Ursachen so schnell wie möglich behandelt werden.

Gleichzeitg sollte die RPGN unbedingt in den Pool der Differenzialdiagnosen mit eingeschlossen sein.

Die Wichtigkeit des frühen Ausschlusses einer RPGN ist darin begründet, dass die Prognose durch frühe Diagnose und Behandlungsbeginn maßgeblich positiv beeinflusst werden kann. Ein klassisches Merkmal eines typischen Notfallerkrankungsbildes.

Ziel dieses Beitrags ist es, dass wir zukünftig gemeinsam auch wirklich frühzeitig daran denken, erste Maßnahmen einzuleiten und bei Erhärtung des Verdachtsmoments auch frühzeitig die richtigen Spezialisten hinzuziehen! So, wie man es in der interdisziplinären Akutmedizin nunmal macht.

Die RPGN ist insbesondere in ihren Ursachen bei weitem noch nicht abschließend geklärt und bekommt deshalb rasch in Artikeln und Buchkapiteln einen abstrakten Charakter. Man möchte förmlich weglaufen, anstatt sich mit gefühlt 1000 verschieden Antikörpern, Serumlabordiagnostik und anderem Kram auseinanderzusetzen. Deshalb folgt nun die pragmatische “das musst du als interdisziplinärer Notfall- und Intensivmediziner zumindest wissen” Übersicht:

 

Was ist die RPGN?

Die RPGN ist ein Syndrom, also eine Konstellation verschiedener Symptome. Sie kann auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt werden. Grundsätzlich beschreibt die RPGN einen raschen Verlust der Nierenfunktion. Dies kann bereits über wenige Tage bis zur terminalen Niereninsuffizienz verlaufen. Die RPGN imponiert zu Beginn vor allem durch unspezifische Symptome wie Müdigkeit, Abgeschlagenheit mit Einschränkung der Leistungsfähigkeit und Fieber. Und genau diese unspezifischen Symptome sind so tückisch, denn viel zu oft werden sie nicht richtig ernst genommen und es kommt zu deutlichen Verzögerungen in Diagnose und Therapiebeginn.

 

Warum ist die RPGN ein Notfall?

Das Fortschreiten der Nierenschädigung ist -wie der Name bereits sagt- ausgesprochen schnell. Je später die Diagnose und eine gezielte Behandlung erfolgt, desto geringer sind die Erfolgsaussichten. Früh erkannt und umgehend behandelt, gelingt eine Erholung der Nierenfunktion je nach Ursache in bis zu 90% der Fälle. Allerdings macht eine hohe Rezidivrate eine fortführende Erhaltungstherapie häufig notwendig.

Zu spät oder gar unbehandelt ist die Prognose ausgesprochen schlecht. Dies bedeutet, dass bestenfalls eine verminderte Nierenfunktion ohne Dialysepflicht besteht. Schlechtestenfalls führt die unerkannte RPGN schnell zur Dialysepflicht auf Lebenszeit mit deutlich reduzierter Lebenserwartung. Für unsere PatientInnen eine Katastrophe.

 

Welche Symptome zeigt eine RPGN?

  • Oligurie / Anurie
  • Hämaturie
  • Dezent ausgeprägte Proteinurie
  • Schneller Anstieg der Retentionsparameter
  • Elektrolytstörung
  • Metabolische Azidose
  • Übelkeit/ Erbrechen
  • Sonografisch kein Hinweis auf postrenales Nierenversagen, aber große Nieren
  • Ödembildung
  • Infektkonstellation im Laborblut
  • Müdigkeit & Abgeschlagenheit
  • Hypertonie
  • Fieber
  • Gelenk-und Muskelschmerzen
  • Affektionen der Haut

 

Und wie bekommt man ein Konzept in die RPGN, damit man sie sich merken kann?

Die RPGN kann sinnvoll (immunhistologisch) in drei Klassen unterschieden werden:

1. Kein oder nur geringer Nachweis von Immunblogulinen; eine Glomerulonephritis bei Vaskulitis (ca. 70% der Fälle).

2. Antikörperbildung, die nicht direkt gegen die Basalmembran gerichtet ist, diese aber beeinflusst (ca. 20% der Fälle)

3. Antikörperbildung, die direkt gegen die glomeruläre Basalmembran (bzw. das Kollagen IV der Membran) gerichtet ist (ca. 10% der Fälle)

 

Kein oder nur geringer Nachweis von Immunblogulinen; eine Glomerulonephritis bei Vaskulitis (ca. 70% der RPGN).

Am häufigsten kommt die RPGN ohne oder nur mit geringem Immunglobulinnachweis vor. Aus diesem Grunde wird diese Form auch als „pauci-immun“ (lat.: wenige) genannt. Bei dieser Form lassen sich ANCA im Serum nachweisen. Sie ist mit mit systemischen Erkrankungen wie der Vaskulitis sowie unterschiedlichen Formen der Polyangiitis assoziiert.

 

Antikörperbildung, die nicht direkt gegen die glomeruläre Basalmembran (GBM) gerichtet ist, diese aber beeinflusst (ca. 20% der RPGN)

In 20% der Fälle einer RPGN werden Immunglobuline nachgewiesen, die nicht direkt gegen die glomeruläre Basalmembran gerichtet sind. Dieses Phänomen beobachtet man beispielsweise nach Streptokokken-Infektionen und anderen Infektgeschehen, weshalb es bei neu aufgetretener Niereninsuffizienz immer ratsam ist, in der Anamnese nach stattgehabten Infektionen zu fragen, um hier erste mögliche Hinweise zu erhalten. Zudem sieht man diese Form der RPGN als Begleiterscheinung vaskulitischer Kollagenosen, wie beispielsweise dem Systemischen Lupus erythematosus (Dr. House lässt grüßen) oder im Rahmen der primären Glomerulonephritis.

 

Antikörperbildung, die direkt gegen die GBM (bzw. das Kollagen IV der Membran) gerichtet ist (ca. 10% der RPGN)

Last but not least können in ca. 10% der RPGN-Fälle tatsächlich Antikörper nachgewiesen werden, die direkt gegen die GBM gerichtet sind. Genauer gesagt richten sich diese Antikörper gegen das Kollagen IV der Basalmembran, welches gleichzeitig im Bereich der Lunge zu finden ist und deshalb auch gern pulmonale Symptome (Hämoptysen) und radiologisch nachweisbare Infiltrate zeigt. Klassischer Vertreter ist hier das Goodpasture Syndrom.

 

Zwingend für die letztendliche Diagnose erforderlich ist eine Nierenbiopsie. Hier wird dann nach Antikörpern und ihrer Anordnung im Bereich der GBM gesucht. Eine lineare Anordnung an der GBM spricht für Anti-GBM-Antikörper. Eine nicht-lineare Anordnung spricht für das Vorliegen von Immunkomplexablagerungen, die offensichtlich nicht direkt gegen die GBM gerichtet und Folge einer zuvor abgelaufenen Infektion sind. Fehlender immunhistologischer Nachweis von Immunglobuline, bzw. der Nachweis nur weniger Immunglobulinablagerungen spricht für die RPGN „pauci“, insbesondere wenn zuvor im Laborblut der ANCA-Nachweis erfolgen konnte.

Da man aber meist nicht direkt fröhlich eine Nierenbiopsie durchführt, sondern zunächst den Verdacht erhärten möchte, erfolgt oft zunächst eine Serumdiagnostik. Diese sollte frühzeitig im interdisziplinären Management eingeleitet werden und richtet sich natürlich nach den Ursachen der möglicherweise zugrundeliegenden Ursachen einer RPGN:

Bei Erhärtung des Verdachts sollten unverzüglich Spezialisten, in diesem Falle Nephrologen, hinzugezogen werden. Mit den KollegInnen kann man im weiteren Verlauf die Nierenbiopsie (zwingend notwendig für Diagnosestellung) und Therapieeinleitung besprechen.

 

Die Therapie

Sicherlich ist die Therapie durch die Spezialisten -in diesem Fall die Nephrologen- durchzuführen. Die einleitende Therapie sollte man jedoch kennen.

Diese richtet sich nach der Ursache der RPGN und beginnt meist mit der hochdosierten Glukokortikoidgabe, der Applikation von Cyclophsophamid und Erwägung einer Behandlung mit monoklonalen Antikörpern (Rituximab, „off-label-use“).

Die weiterführende Therapie (Erhaltungstherapie, etc.) sollten wir dann gern den KollegInnen der Nephrologie überlassen.

 

Fazit:

Als allgemeiner Notfall- und Intensivmediziner muss man aus meiner Sicht nicht allzuviel auswendig über die RPGN wissen. Aber man muss dieses Syndrom auf dem Schirm haben. Tatsache ist, dass nach Ausschuss eines post- und prärenalen Nierenversagens der Akutmediziner dazu neigt, Gas rauszunehmen und sich zu entspannen. Grundsätzlich vielleicht nachvollziehbar, aber schlichtweg falsch, denn die RPGN ist ein absoluter (nephrologischer) Notfall und man muss hier unbedingt am Ball bleiben. Schnelle Diagnose und Therapiebeginn haben maßgeblichen Einfluss auf das Outcome und durch frühes Handeln kann durch uns in der Notfall- und Akutmedizin das organisatorische Management und die Therapieeinleitung von Beginn an in richtige Bahnen gelenkt werden. Grund genug, zukünftig an die RPGN zu denken und als mögliche Ursache für passende Symptome mit einzubinden!

 

Wie sieht es bei dir aus? Hast du die RPGN grundsätzlich auf dem Schirm? Gibt es Fragen oder hast du Anmerkungen oder Kommentare zu diesem Thema? Wenn ja, dann schreib mit doch deine Gedanken in die Kommentare der Sozialen Medien oder Kontaktiere mich gerne via Mail!

Bis dahin,

Sebastian.

 

Mein Dank gilt hier besonders PD Dr Peter Benöhr, der bereit war, diesen Blogbeitrag vor Veröffentlichung fachkundig zu prüfen und freizugeben. Herzlichen Dank, Peter!

 

Literaturempfehlungen:

Arthritis Rheum 2012. 65:1-11

Nephrol Dial Transplant. https://doi.org/10.1093/net/gfy327

N Engl J Med 2014. 371:1771-1780

Internist 2019. 60:478-484

 

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